In der 43. Ausgabe unseres Newsletters finden Sie u. a. folgende Beiträge:
Die Zustellung einer Kündigung per Bote
Sehr geehrte Damen und Herren,
in dieser Ausgabe unseres Newsletters befassen wiruns mit der “richtigen“ Art und Weise der Zustellungeines Kündigungsschreibens an den Arbeitnehmer unddamit zusammenhängender Rechtsprechung.
Des Weiteren berichten wir über die Vorgaben desEuGH zur Arbeitszeiterfassung sowie immer wiederauftauchende Fragen und Probleme betreffend desEntstehens von Urlaubsansprüchen währendMutterschutz und Elternzeit, der Übertragung vonUrlaubsansprüchen auf die Zeit nach Elternzeitsowie Kürzungsmöglichkeitenwegen Elternzeit.
Wir wünschen eine interessante Lektüre und stehen beiRückfragen jederzeit gerne für Sie zur Verfügung.
Mit freundlichen Grüßen
Ihre Rechtsanwälte
Thiery & Thiery
Eigentlich ist es der sicherste Weg, dem Adressaten ein Schriftstück, wie z. B. eine Kündigung, zuzustellen: das Überbringen durch einen Boten, der die Kündigungübergibt oder – wenn er den Adressaten nicht antrifft – in einen beschrifteten Briefkasten einwirft. Der Bote fertigt dann für die Personalakte einen Vermerk über die Tatsache, die Umstände und den Zeitpunkt der Zustellung.
Und schon beginnt der Streit. Zu welcher Tageszeit spätestens kann die Kündigung per Einwurf zugestellt werden, damit die Zustellung noch für denselben Tag gilt? Dieses Detail kann für den Arbeitgeber von erheblicher Bedeutung sein, z. B. bei einer nach § 626 Abs. 2 BGBauf zwei Wochen ab Kenntnis des Kündigungsgrundes befristeten außerordentlichen Kündigung oder wenn es um die Einhaltung eines Kündigungstermines geht, damit die gesetzliche oder vertragliche Kündigungsfristeingehalten wird.
Für den Arbeitnehmer ist der Zeitpunkt der Zustellungebenfalls von großer Bedeutung, weil sich die 3-Wochen-Frist für die Erhebung einer Kündigungsschutzklage ab diesem Zeitpunkt berechnet.
Als Grundsatz gilt § 130 Abs. 1 S. 1 BGB: Eine Willenserklärung,wie z. B. eine Kündigung, geht dem Adressaten zu „sobald sie in verkehrsüblicher Weise in die tatsächliche Verfügungsgewalt des Empfängers gelangt ist undfür diesen unter gewöhnlichen Umständen die Möglichkeitbesteht, von ihr Kenntnis zu nehmen“. Rechtsbegriffen ist aber noch überhaupt nichts gesagt.
Bei den Obergerichten hat sich die Annahme verfestigt, dass es auf die übliche, allerdings in der Praxis stark variierende Postzustellzeit ankomme. Die Frage, wie ein Arbeitgeber rechtssicher die Postzustellzeit am Wohnort seines Mitarbeiters feststellen soll, hat die Gerichte nicht beeindruckt. Es heißt nur, dass diese Frage nicht individualisiert, sondern generalisiert zu beantworten ist – was immer dies auch heißt.
Im Jahre 2017 wurde die Diskussion um eine Facette bereichert. In einem Rechtstreit ging es um die fristlose Kündigung eines Mitarbeiters eines Baden-Württembergischen Unternehmens, der seinen Wohnsitz jenseits des Rheines im Département Bas-Rhin hatte. Das Kündigungsschreiben überbrachte ein anderer Mitarbeiter des Unternehmens, der den Umschlag am 27.01.2017 um 13:25 Uhr in den beschrifteten Briefkasten des Adressaten einwarf. Der gekündigte Mitarbeiter erhob Kündigungsschutzklage, welche aber erst später als 3 Wochen ab dem Tag des Einwurfs bei Gericht einging, also möglicherweise verspätet war.
Der Kläger hatte vorgetragen, dass die Postzustellung an seinem Wohnort üblicherweise um 11:00 Uhr beendet sei. Der Einwurf nach 13:00 Uhr wirke erst für den Folgetag, was dazu geführt hätte, dass die Kündigungsschutzklage noch rechtzeitig eingegangen wäre.
Die Richter des LAG Baden-Württemberg wagten mit ihrem Urteil vom 14.12.2018 mit dem Aktenzeichen 9 Sa 69/18 einen neuen Weg. Sie stellten die einfache Frage: Wann schaut der Normalbürger in seinen Briefkasten? Sie sahen es als unrealistisch an, davon auszugehen, dass ein Empfänger tatsächlich um 11:00 Uhr am Vormittag seinen Briefkasten leert. Man müsse das Normalbild eines in Vollzeit arbeitenden Bürgers zur Vorlage nehmen, der erst dann dazu komme, seine Post durchzusehen, wenn er von der Arbeit heimkehre. Bis zu einem Posteinwurf um 17:00 Uhr könne gewöhnlich noch mit der Kenntnisnahme durch den Empfänger gerechnet werden.
Das BAG zweifelte an dieser Grundlage, für die sich das LAG Baden-Württemberg entschieden hatte. Es dürfe sich zwar grundsätzlich für eine Grundlage entscheiden, aber in diesem Falle hätten die Kollegen ein paar wichtige Aspekte nicht bedacht. So etwa, dass die überwiegende Zahl der Deutschen gar keiner Vollzeittätigkeit nachgehe. Nicht einmal die Hälfe der Bevölkerung sei überhaupt erwerbstätig, 6,8 Mio. als geringfügig Beschäftigte oder in Teilzeit tätig. Wie das Berufungsgericht trotz dieser ihm bekannten Werte dazu komme, ausgerechnet den Vollzeitarbeitnehmer als Minderheit der Bevölkerung zur Bestimmung der allgemeinen Verkehrsauffassung heranzuziehen, habe es nicht vernünftig begründet.
Es sei schon nicht klar, warum überhaupt nur auf die arbeitende Bevölkerung abgestellt werden solle. Auch lebten viele Berufstätige gar nicht alleine, sondern mit anderen Personen zusammen, die durchaus auch tagsüber den Briefkasten leeren könnten. Zudem habe das LAG nur auf die Gegebenheiten abgestellt, die für Deutschland relevant seien. Da aber die Gepflogenheiten am Zustellungsort ebenfalls relevant seien, müsse hier auch die Verkehrsauffassung hinsichtlich der Postzustellung in Frankreich berücksichtigt werden.
Die vom LAG angesetzte Leerungszeit um 17:00 Uhr sei damit willkürlich und nicht ausreichend, um die Feststellung zu tragen, dass die Klagefrist abgelaufen gewesen ist, befand das BAG in seinem Urteil vom 22.08.2019 unter dem Aktenzeichen 2 AZR 111/19.
Nun wird das LAG Baden-Württemberg sich aufs Neue mit der Sache befassen und unter anderem gewissenhaft klären müssen, wann der Durchschnittsbürger im französisch-deutschen Grenzgebiet gemeinhin seinen Briefkasten zu leeren pflegt.
So soll also alles beim Alten bleiben. Weiterhin gilt der Grundsatz, dass es generalisierend auf die Postzustellungszeit am Wohnort und nicht individuell bezogen auf den Briefkasten des Empfängers ankomme.
Und weiter ging der Streit, nunmehr im Zusammenhang mit der Zustellung durch einen Postbediensteten. Dieser sei – so der Kläger – nicht zum üblichen Zeitpunkt erschienen, sondern erst Stunden später. Diese Fallkonstellation brachte das BAG für sein Urteil vom 20.06.2024 unter dem Aktenzeichen 2 AZR 213/13 auf eine neue Idee: Wenn das Schriftstück durch einen Postbediensteten eingeworfen wird, ist die postübliche Zustellzeit durch das Zustellverhalten des Postmitarbeiters geprägt. Die somit eingetretene Zustellzeit ist die übliche, wann immer der Postbedienstete den Einwurf während seines Arbeitstages bewirkt.
Für alternative Zustelldienste und für die Zustellung durch den Absender gilt diese Privilegierung nicht. Sie müssen die Zustellung zu einer möglichst frühen Tageszeit bewirken oder sich weiterhin sorgen, wie die Sache wohl ausgeht. Das Urteil des LAG Baden-Württemberg vom 14.12.2018 mit dem Aktenzeichen 9 Sa 69/18 hätte Klarheit für alle gebracht. Schade, dass es aufgehoben wurde.
Wie wir in dem vorangegangenen Beitrag gesehen haben, diskutieren deutsche Gerichte die Frage, ob bei der Zustellung, z. B. einer Kündigung, für die Annahme einer Briefkastenleerung von einer allgemeinen Vollzeitarbeit, Teilzeitarbeit oder gar keiner Arbeit des betreffenden Empfängers auszugehen ist. In der japanischen Arbeitswelt sieht dies ganz anders aus.
Im Jahre 2020 sollte ein japanischer Lokführer einen leeren Zug am Bahnhof Okayama in ein Depot fahren. Er hat sich aber zunächst im Bahnsteig geirrt. Dadurch hatte sich die Übernahme des Zuges um 2 Minuten und die Ankunft in der Abstellhalle um 1 Minute verspätet. Es war ihm also sogar gelungen, 1 Minute wieder aufzuholen.
Der Arbeitgeber hat den Lohn für 1 Minute um 43 Yen (etwa 0,41 €) gekürzt mit der Begründung: ohne Arbeit kein Lohn. Wegen der verbliebenen Fehlzeit in Folge der Verwechslung habe der Lokführer nicht gearbeitet.
Das Gericht hatte ein Einsehen und sprach dem Lokführer die 43 Yen sogar mit einem Überstundenzuschlag zu.
Dieser bizarre Rechtstreit wirft ein Schlaglicht auf die legendäre Pünktlichkeit japanischer Bahnen, aber auch auf die strengen Arbeitsprinzipien in der japanischen Arbeitswelt.
Am 14.05.2019 hat der EuGH unter dem Aktenzeichen C-55/18 eine Rechtsfrage des Obergerichtes des Baskenlandes wie folgt entschieden: Aus der allgemeinen Verpflichtung der Mitgliedsstaaten und der Arbeitgeber, eine Organisation und die erforderlichen Mittel zum Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer bereitzustellen, ergibt sich die Einrichtung eines objektiven, verlässlichen und zugänglichen Systems, mit dem die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann.
Mit dieser Entscheidung wurden die Mitgliedsstaaten verpflichtet, die rechtliche Aussage in nationales Recht umzuwandeln. In Deutschland ist dies noch nicht geschehen. Das BAG hat mit seinem Urteil vom 13.09.2022 unter dem Aktenzeichen 1 ABR 22/21 vorgegriffen und entschieden, dass das Gebot der Zeiterfassung auch ohne eine nationale Umsetzung schon jetzt nach den bestehenden deutschen Gesetzen gelte. Wir haben hierüber in einem früheren Newsletter berichtet.
Die Umsetzung in nationales deutsches Recht ist mit dem „Ampel-Aus“ stecken geblieben. Der Entwurf eines neuen § 16 Abs. 2 ArbZG sah für jeden Arbeitnehmer die Pflicht zur elektronischen Zeiterfassung jeweils am Tag der Arbeitsleistung vor. Eine Ausnahme sollte gelten für Betriebe mit weniger als 10 Arbeitnehmern und für Privathaushalte.
Spanien ist schon weiter. Der spanische Gesetzgeber hat bereits ein entsprechendes nationales Gesetz erlassen. Bestimmte Arbeitgeber, darunter Privathaushalte, wurden von der Verpflichtung zur Zeiterfassung befreit.
Das Obergericht des Baskenlandes hatte Zweifel, ob die Ausnahmeregelung für Angestellte mit Unionsrecht vereinbar sei und legte dem EuGH diese Rechtsfrage vor. Der EuGH hat am 19.12.2024 unter dem Aktenzeichen C-531/23 festgestellt: Die betreffenden EU-Richtlinien sind dahin auszulegen, dass die Arbeitgeber von Hausangestellten nicht von der Pflicht entbunden werden können, ein Zeiterfassungssystem einzuführen. Es muss auch Hausangestellten ermöglicht werden, objektiv und zuverlässig festzustellen, wie viele Arbeitsstunden sie wann geleistet haben.
Daran wird sich auch die nächste Bundesregierung halten müssen. Bis dahin bleibt offen, ob es für Privathaushalte wenigstens bei der Form der Zeiterfassung, welche grundsätzlich elektronisch erfolgen muss, Erleichterungen geben wird.
Und nebenbei hat der EuGH darauf aufmerksam gemacht, dass es sich bei Hausangestellten um eine Gruppe von Arbeitnehmern mit eindeutig überwiegendem Frauenanteil handele. Es sei nicht ausgeschlossen, dass es sich im vorliegenden Fall um eine mittelbare Diskriminierung wegen des Geschlechtes handele. Auch dies müsse das Obergericht des Baskenlandes berücksichtigen.
Die Rechtsfragen und -streitigkeiten im Zusammenhang mit dem Urlaub waren schon mehrmals Thema in unseren Newslettern. Besonders häufig besteht Unsicherheit hinsichtlich des Urlaubsanspruchs während des Mutterschutzes und der Elternzeit.
Die Brisanz dieses Themas zeigt sich an der folgenden Fallkonstellation, die das BAG am 16.04.2024 unter dem Aktenzeichen 9 AZR 165/23 entschieden hat:
Für die Klägerin begann der Mutterschutz zu einem Zeitpunkt, als sie den Urlaub für das laufende Kalenderjahr noch nicht vollständig in Anspruch genommen hatte. Auf den Mutterschutz folgte die Elternzeit, an welche sich lückenlos eine weitere Mutterschutzfrist und eine weitere Elternzeit anschlossen. Die Arbeitnehmerin kündigte ihr Arbeitsverhältnis selbst zum Ende der zweiten Elternzeit. Ein nicht seltener Ablauf.
In dem vom BAG entschiedenen Fall hatte der Arbeitgeber es versäumt, den Urlaubsanspruch für die Elternzeit durch entsprechende Erklärung gemäß § 17 Abs. 1 BEEG zu kürzen. Die nachträgliche Kürzung war wegen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht mehr möglich. Das für den Arbeitgeber bittere Ende: Er musste der Mitarbeiterin 146 Urlaubstage abgelten.
Wir bringen die wichtigsten Grundsätze zum Urlaubsanspruch während Mutterschutz und Elternzeit in Erinnerung:
Das BAG hat besonders ausführlich herausgestellt, dass bei der von ihm entschiedenen Sachlage weder ein Verfall noch eine Verjährung noch eine Verwirkung des Urlaubsanspruches angenommen werden könne.